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Literature: Goethe - Das Märchen

  Seite 35: J. W. von Goethe: Das Märchen



deutscher Text English text
 

Nicht lange, so trat eine der schönen Dienerinnen Liliens hervor, brachte den elfenbeinernen Feldstuhl, und nötigte, mit freundlichen Gebärden, die Schöne sich zu setzen; bald darauf kam die zweite, die einen feuerfarbigen Schleier trug und das Haupt ihrer Gebieterin damit mehr zierte als bedeckte; die dritte übergab ihr die Harfe, und kaum hatte sie das prächtige Instrument an sich gedrückt, und einige Töne aus den Saiten hervorgelockt, als die erste mit einem hellen runden Spiegel zurückkam, sich der Schönen gegenüber stellte, ihre Blicke auffing und ihr das angenehmste Bild, das in der Natur zu finden war, darstellte. Der Schmerz erhöhte ihre Schönheit, der Schleier ihre Reize, die Harfe ihre Anmut, und so sehr man hoffte ihre traurige Lage verändert zu sehen, so sehr wünschte man ihr Bild ewig, wie es gegenwärtig erschien, festzuhalten.
Mit einem stillen Blick nach dem Spiegel lockte die bald schmelzende Töne aus den Saiten, bald schien ihr Schmerz zu steigen, und die Saiten antworteten gewaltsam mit ihrem Jammer; einigemal eröffnete sie den Mund zu singen, aber die Stimme versagte ihr, doch bald löste sich ihr Schmerz in Tränen auf, zwei Mädchen, faßten sie hülfreich in die Arme, die Harfe sank aus ihrem Schoße, kaum ergriff noch die schnelle Dienerin das Instrument und trug es beiseite.

 

In a few moments one of the servants of the beautiful Lily approached, carrying the ivory chair, and with friendly entreaties compelled her mistress to be seated. Then came a second, bearing a flame-coloured veil, with which she rather adorned than covered the head of the Lily. A third maiden offered her the harp; and scarcely had she struck the chords, and awakened their delicious tones, when the first maiden returned, having in her hands a circular mirror of lustrous brightness placed herself opposite the Lily, intercepted her looks, and reflected the most enchanting countenance which nature could fashion. Her sorrow added lustre to her beauty, the veil heightened her charms, the harp lent her a new grace; and, though it was impossible not to hope that her sad fate might soon undergo a change, one could almost wish that that lovely and enchanting vision might last for ever.
Silently gazing upon the mirror, she drew melting tones of music from her harp; but her sorrow appeared to increase, and the chords responded to her melancholy mood. Once or twice she opened her lips to sing, but her voice refused utterance; whereupon her grief found refuge in tears. Her two attendants supported her in their arms, and the harp fell from her hands; but the watchful attention of her handmaid caught it, and laid it aside.


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